Training on the job

Weiterbildung im beruflichen Alltag – „Training on the job“

Geschrieben von Elisabeth Hussendörfer, Freie Journalistin // Veröffentlicht am 27.03.2025

Felix Hundeloh über Training on the Job

„Was ich heute beruflich mache, hat kaum noch etwas mit den Inhalten meines Studiums zu tun…“ Viele kennen den Gedanken, dass wesentliche Jobkompetenzen erst im Laufe der Zeit erworben werden.

Doch welchen Stellenwert hat das „On-the-job Training“ im Berufsalltag wirklich? Stimmt es, dass informelles Lernen die formale und non-formale Bildung als Kompetenzquelle übertrifft?

Verfechter des „Learning by doing“ berufen sich gern auf das so genannte „70-20-10-Modell“. Es wurde in den 1980er Jahren von Morgan McCall, Robert W. Eichinger und Michael Lombardo vom US-amerikanischen „Center for Creative Leadership“ entwickelt: Im Rahmen eines Forschungsprojektes (vgl. „The Career Architect Development Planner“, 1996) wurde untersucht, wo und wie sich rund 200 Führungskräfte die Kompetenzen für ihren beruflichen Erfolg angeeignet hatten. Demnach lernen wir zu 10 Prozent durch klassische Formate, zu 20 Prozent durch Kolleginnen und Kollegen und zu 70 Prozent durchs Doing am Arbeitspatz.

Bis heute orientieren sich Organisationen im Rahmen ihrer Personalentwicklungsmaßnahmen an „70-20-10“. Allerdings melden sich immer wieder auch Kritiker zu Wort. Sie bemängeln, dass die empirische Basis mit nur 200 Personen viel zu klein war, um weitreichende Schlussfolgerungen ziehen zu können. Kritisch gesehen wird auch, dass es sich bei den Befragten um eine ausgesprochen homogene Gruppe (nur Führungskräfte) gehandelt habe. 

Für Claudia Scheins, Head of Learning & Development des Logistikdienstleisters FIEGE, ist 70-20-10 keine „in Stein gemeißelte Regel“ – aber eine Lernpraxis, die ihre Berechtigung hat. Und sie ist gelebte Realität bei FIEGE, wie wir unter anderem im Gespräch mit Felix Hundeloh erfahren duften. Hundeloh hat als ungelernter Lagerarbeiter gestartet und ist heute Führungskraft im Bereich Automatisierungstechnik.

© FIEGE
Claudia Scheins von FIEGE

„Wer für seine Arbeit brennt, braucht Raum zur Entfaltung“

Der Kontraktlogistiker FIEGE in Greven nördlich von Münster bündelt sämtliche Qualifizierungsmaßnahmen unter dem Dach der „FIEGE Academy“ (https://www.fiege.com/de/newsroom/ausbau-und-digitalisierung-der-fiege-academy). Mindestens genauso wichtig ist für Claudia Scheins aber, dass sich die Mitarbeitenden im Arbeitsalltag entfalten können. Wir haben mit der Director Learning & Development des über 150-jährigen Familienunternehmens über die Chancen des „Learning by Doing“ gesprochen.

Es heißt, bei Ihnen im Unternehmen seien Schule und Ausbildung oft erst der Anfang...

Wir sind beim Thema Weiterbildung sehr individuell unterwegs, das stimmt. Das ist übrigens auch für diejenigen der weltweit 22.000 Mitarbeitenden von Vorteil, die gar keine Ausbildung haben - und bei FIEGE dennoch weit kommen können. Vieles, was man können muss, kann man bei uns gut am jeweiligen Standort lernen.

An was für Tätigkeiten denken Sie?

Lassen Sie mich hier ein wenig ausholen und zunächst unser Unternehmen erklären. Denn den Namen FIEGE kennen vermutlich nicht alle. Viele haben aber bestimmt mal unser Logo auf einem unserer vielen Logistikzentren an den Autobahnkreuzen oder auf einem unserer Lkw gesehen. Wir sind die, die alles in Bewegung bringen, sagen wir gern.

Und was für Menschen brauchen Sie dafür?

In unserem Geschäftsbereich Kontraktlogistik sorgen wir als Logistikdienstleister dafür, dass die Produkte unserer Kunden, darunter bekannte Marken wie Zalando, Katjes, oder Contintental, ihr Ziel – beispielsweise die Paketstation bei Ihnen um die Ecke – erreichen. Und das so sicher, schnell und dabei gern so nachhaltig wie möglich. Ein Schlüssel dafür sind unter anderem unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Lager. Beginnt jemand hier seine Arbeit bei uns, startet er oder sie klassischerweise mit dem „Picken“: Die Mitarbeitenden gehen mit einem Scanner durch das Lager und kommissionieren die entsprechenden Produkte für die Kundenbestellungen. Kleidung, Lebensmittel, Reifen… Daneben muss die Ware verteilt, müssen die Buchungen verwaltet werden.

Braucht man dafür eine besondere Qualifikation?

Tatsächlich sind wir gerade im Blue-Collar-Bereich ein idealer Arbeitgeber auch für Menschen ohne Berufsabschluss. Verstehen Sie mich nicht falsch, natürlich freuen wir uns über Bewerbungen mit hohen Bildungsabschlüssen und für viele Verwaltungsfunktionen sind diese auch Voraussetzung für die Einstellung. Auch wir wollen die besten Köpfe für uns gewinnen und langfristig bei uns halten.

Aber?

Es gibt bei uns auch viele Tätigkeiten im gewerblichen Bereich, für die das nicht erforderlich ist.

Sprechen Sie von Tätigkeiten ohne Berufsausbildung?

Die ist generell von Vorteil, aber oft eben keine Voraussetzung. Gerade für die Weiterentwicklung ist eher ganz allgemein die Bereitschaft, sich vor Ort einzubringen, Chancen wahrzunehmen wichtig. Schauen Sie, wenn wir einen neuen Kunden gewinnen oder gleich einen weiteren Standort eröffnen, suchen wir schon mal 100 oder 200 Menschen auf einen Schlag. Dann soll es schnell gehen – und das ist auch unser Ansatz im Bewerbungsprozess. Wir möchten diesen Prozess möglichst niedrigschwellig halten, um Interessierte nicht durch unnötige Hürden davon abzuhalten, sich bei uns zu melden. Als Unternehmen befinden wir uns in einem ständigen Veränderungsprozess. Wir wachsen schnell und freuen uns über Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die sich ebenfalls verändern, die wachsen wollen. Es zeichnet unsere Führungskräfte aus, dass sie dafür eine sehr hohe Sensibilität haben: Will jemand mehr? Dann bekommt sie oder er die Möglichkeiten dafür.

Wie könnte dieses „Mehr“ aussehen?

Nehmen wir zum Beispiel unseren Kollegen Felix Hundeloh. Er hat bei uns als Lagerarbeiter angefangen. Er kam als Leiharbeiter, war ungelernt. Felix fiel durch seine guten Fragen auf. Er war total neugierig, wollte die Prozesse hinter den jeweiligen Abläufen verstehen. Nach einem Jahr hat er bei uns eine Ausbildung zur Fachkraft für Lagerlogistik begonnen. Schon ein halbes Jahr nach der Ausbildung war er Teamleiter.

Und dann?

Wurde er mit immer komplexeren Themen konfrontiert, wobei sein Händchen für technische Betriebssysteme auffiel. Über weitere Zwischenschritte, unter anderem auch Führungskräftetrainings, kam Felix in den Warenausgang, wo er schließlich bis zu 45 Kolleginnen und Kollegen führte.

Da waren doch sicher eine Reihe ganz neuer Skills gefragt?

Interessanter Punkt: Obwohl die Führungsspanne immer größer wurde und er auch Führungskräftetrainings absolviert hat, war es Felix mindestens genauso wichtig, sich die jeweiligen fachlichen Inhalte vor Ort anzuschauen. Im nächsten Schritt wurde er dann in das Projekt zum Aufbau eines sogenannten Autostores eingebunden.

Was bedeutet das?

Hier geht es um den Bau von Automatisierungsanlagen – in diesem konkreten Fall um die Installation eines vollautomatischen Lagersystems in unserer Niederlassung in Greven-Reckenfeld, an das ein intelligenter Roboterarm sowie eine 3D-Verpackungsanlage angeschlossen wurde, um das immer weiter steigende Auftragsvolumen eines E-Commerce-Kunden abarbeiten zu können. Felix hat mittlerweile in diesem Bereich als „Key User Innovationen und Automatisierungstechnik“ eine sehr hohe Verantwortung.  

Was ist für Sie das Geheimnis solch beeindruckender Biografien?

Dass Erfolg auch dann möglich ist, wenn eine Mitarbeiterin oder ein Mitarbeiter bisher andere Lernerfahrungen gemacht hat.

Was genau meinen Sie damit?

Nun, das schulische Lernen ist dem einen oder der anderen vielleicht nicht unbedingt positiv in Erinnerung geblieben. Aber das ist kein Grund, den Kopf in den Sand zu stecken! Wie gesagt, ich zolle unseren Führungskräften hier wirklich großen Respekt. Die Vorbildfunktion und der schon erwähnte Freiraum haben bei FIEGE einen hohen Stellenwert und machen nach meiner Überzeugung einen großen Teil unseres unternehmerischen Erfolgs aus. Du kannst das schaffen – das ist nur eine Phrase. Wenn man aber sehen und erleben kann, was andere bereits geschafft haben, ist das etwas anderes. Wir sind große Verfechter der 70-20-0-Theorie und legen viele Entwicklungspläne unserer Mitarbeitenden auch entsprechend an.

Der Weiterentwicklungsansatz, der auf ein US-Forschungsprojekt der 80er Jahre zurückgeht?

Richtig, das praxisnahe Lernen ist diesem Modell zufolge mit 70 Prozent zentral. Und das entspricht genau unserem Erleben: Ausprobieren, mit neuen Aufgaben und Projekten betraut werden, darum geht es. Vorher muss ich mir natürlich auch theoretisches Wissen aneignen oder das ein oder andere von erfahrenen Kolleginnen und Kollegen gezeigt bekommen. Dieses Lernen von anderen macht bei uns oft 20 Prozent des Entwicklungsplan aus. Hierzu haben wir in unserem Familienunternehmen einen großen Pool an Mentorinnen und Mentoren aufgebaut, über den das ganze gezielt angegangen werden kann.

Was ist mit den verbleibenden 10 Prozent?

Das sind dann Weiterbildungsmaßnahmen wie Seminare, die übrigens zunehmend interaktiver werden, damit das Gelernte schnell im Alltag umgesetzt werden kann. Auch die Führungskräfteentwicklung in Workshop- und Feedbackformaten ist uns sehr wichtig, um die Führung, unsere Führungskultur und die Zusammenarbeit in den Teams kontinuierlich zu verbessern.

Im Vergleich zu anderen Unternehmen scheint der Anteil klassischer Weiterbildungselemente bei FIEGE insgesamt eher gering zu sein?

Das habe ich schon öfter gehört, aber ich glaube, das ist zu einfach gegriffen. Was wir definitiv nicht wollen, ist eine starre Entwicklung über Standardprogramme und -seminare nach dem Gießkannenprinzip. Hier wählen wir bewusst einen sehr individuellen Ansatz mit der beschriebenen bedarfsorientierten und praktischen Begleitung und viel Bezug zum Arbeitsalltag. Das heißt aber nicht, dass wir wenig in Weiterbildung investieren.

Sondern?

Neue strategische Themen wie Nachhaltigkeit, Künstliche Intelligenz und Innovation erfordern die Vermittlung von Basiswissen. Gerade beim Thema KI ist es essenziell und unsere Pflicht als Arbeitgeber, Vertrauen aufzubauen und unsere Kolleginnen und Kollegen durch zielgruppenspezifische Maßnahmen auf die bevorstehende KI-Reise mitzunehmen. Deshalb bündeln wir ein breites Seminarangebot und andere Weiterbildungsmaßnahmen in unserer FIEGE Academy. Hier können Fachbereiche, wie unsere Kolleginnen und Kollegen aus dem zentralen Lean Management, Fachwissen an die verantwortlichen Lean Manager in unseren Standorten weitergeben. Auch das duale Studium, die Meisterausbildung und den berufsbegleitenden Master fördern wir. Ganz grundsätzlich bleibe ich allerdings dabei: Ein großer Teil des Lernens findet im laufenden Arbeitsalltag, also „on the job“ statt.

Das heißt?

Zeitgemäßes Lernen geht für mich über die klassischen Qualifikationen und auch über die klassischen Berufsbilder hinaus. Diese begünstigen zwar einen guten Start und Zugang zu bestimmten Jobs. Aber das darf nicht der einzige Weg sein, insbesondere für Menschen ohne Berufsabschluss. Wenn jemand Potenzial hat und brennt, braucht er Raum, um sich entwickeln zu können. Was wir uns wünschen und unterstützen, sind Führungskräfte und Mitarbeitende, die gemeinsam über den Tellerrand schauen. Dazu gehören natürlich auch, dass die verantwortlichen Kolleginnen und Kollegen unserer People & Culture-Abteilung diese Form des Lernens mit entsprechenden Maßnahmen unterstützen.

Für mehr Vorzeigekarrieren wie die von Felix?

Ich könnte Ihnen noch viele weitere ähnliche Beispiele nennen. Aber es geht nicht unbedingt nur um Karriere im klassischen Sinne.

Sondern?

Manchmal geht es mehr um die Wirkung von Qualifizierungsmaßnahmen an sich. So haben bei uns langjährige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die Möglichkeit, über ein standardisiertes Validierungsverfahren Fähigkeiten ermitteln zu lassen, die sie außerhalb des formalen Bildungssystems erworben haben. Diese werden in Bezug zu in Deutschland anerkannten Ausbildungsberufen gesetzt und bewertet. Ein anschließendes Zertifikat der Industrie- und Handelskammer (IHK) bescheinigt die vollständige oder anteilige Gleichwertigkeit mit diesen Berufen.

Die Kollegen haben durch diese Maßnahme dann also nicht unbedingt mehr Skills?

Wie gesagt, die haben sie oft vorher schon – aber gut, dass Sie da nochmal nachhaken. Denn an dieser Stelle kommt für mich neben dem fachlichen Mehrwert der Qualifizierungsmaßnahme noch ein weiterer wichtiger Punkt hinzu. Für viele unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist ein solches Zertifikat ein Zeichen großer Wertschätzung. Für uns sind die strahlenden Gesichter bei der Übergabe der Zertifikate ein weiterer Beweis: Menschen sind hungrig. Sie wollen lernen. Und wir als Arbeitgeber und Familienunternehmen wollen die Möglichkeiten dafür schaffen.

  • Vom ungelernten Leiharbeiter zur Führungskraft

    © Felix Hundeloh
    Felix Hundeloh von FIEGE

    Felix Hundeloh, Key User Innovation und Automatisierungstechnik beim Logistikunternehmen FIEGE

     

    „Als ich zu FIEGE kam, hatte ich einen Hauptschulabschluss und sechs Monate Erfahrung als Maschinenbediener. Inzwischen stehe ich im Organigramm auf einer ähnlichen Stufe mit Kolleginnen und Kollegen, die einen Meistertitel oder sogar ein abgeschlossenes Studium haben. Andere wiederum sind wie ich ohne Ausbildung gestartet, hatten aber das Zeug und vor allem den Willen zu mehr. Ich glaube, wir alle sind uns einig: Das meiste haben wir aus der Praxis mitgenommen. FIEGE hat uns den nötigen Raum gegeben – für Leaning by Doing, für die eigene Weiterentwicklung.“

  • Beschäftigte unzufrieden mit Einsatz ihrer Fähigkeiten

    Eine Umfrage der Jobbörse StepStone unter 5800 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ergab: Fast die Hälfte (45 %) der Befragten sind unzufrieden mit dem Einsatz der eigenen Talente im Job. Ein Drittel (32 %) vermutet, sie könnten an anderer Stelle mehr leisten. Besonders hoch ist der Anteil z.B. in den Berufsgruppen Kundenservice (46 %) sowie IT (46 %).

    Und was müsste aus Sicht der Befragten passieren, um die Situation zu verbessern?

    46 % glauben, ihre Leistung am Arbeitsplatz würde von einer klareren Kommunikation mit der Führungskraft profitieren. 37 % wüschen sich einfachere Prozesse, 30 % mehr Schulungs- und Entwicklungsmöglichkeiten sowie Investitionen in bessere Technologien und Werkzeuge.

    Quelle: https://www.thestepstonegroup.com/english/newsroom/press-releases/frustration-at-work-employees-spend-more-than-eight-hours-a-week-on-unnecessary-tasks-and-meetings/